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25. Juli 2012: Die Entscheidung überrascht nicht
Neuregelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag ist verfassungswidrig
Bundesverfassungsrecht kippt Bundestagswahlrecht erneut
2 BvF 3/11 2 BvR 2670/11 2 BvE 9/11
Aus der Pressemitteilung des BVerfG - Pressestelle - Pressemitteilung Nr. 58/2012 vom 25. Juli 2012
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinem heute verkündeten Urteil entschieden, dass das mit der Änderung des Bundeswahlgesetzes (BWG) neu gestaltete Verfahren der Zuteilung der Abgeordnetensitze des Deutschen Bundestages gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien verstößt. Dies betrifft zunächst die Zuweisung von Ländersitzkontingenten nach der Wählerzahl (§ 6 Abs. 1 Satz 1 BWG), weil sie den Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht. Darüber hinaus sind die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien auch insoweit verletzt, als nach § 6 Abs. 2a BWG Zusatzmandate vergeben werden und soweit § 6 Abs. 5 BWG das ausgleichslose Anfallen von Überhangmandaten in einem Umfang zulässt, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebt. Der Senat hat die Vorschriften des § 6 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2a BWG für nichtig und die Regelung über die ausgleichslose Zuteilung von Überhangmandaten (§ 6 Abs. 5 BWG) für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Es fehlt somit an einer wirksamen Regelung des Sitzzuteilungsverfahrens für die Wahlen zum Deutschen Bundestag. Die zuvor geltenden Bestimmungen leben nicht wieder auf, weil das Bundesverfassungsgericht sie mit Urteil vom 3. Juli 2008 (BVerf¬GE 121, 266) ebenfalls für verfassungswidrig und nur für eine - zwischenzeitlich verstrichene - Übergangsfrist weiter anwendbar erklärt hat. Über den Sachverhalt, der den drei miteinander verbundenen Verfahren zugrunde liegt, informiert die Pressemitteilung Nr. 28/2012 vom 7. Mai 2012. Sie kann auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen werden. Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: I. Effekt des negativen Stimmgewichts Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag darf die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen der Wählerstimmen im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzzahl einer Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden Stimmenzahl korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts). Solche widersinnigen Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg beeinträchtigen nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien, sondern verstoßen auch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, da es für den Wähler nicht mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann. Ein Sitzzuteilungsverfahren ist mit der Verfassung unvereinbar, soweit es solche Effekte nicht nur in seltenen und unvermeidbaren Ausnahmefällen herbeiführt. § 6 Abs. 1 Satz 1 BWG sieht vor, dass jedem Land ein nach der Wählerzahl bemessenes Kontingent von Sitzen zugewiesen wird, um die nur noch die Landeslisten der in dem Land angetretenen Parteien konkurrieren. Die Bildung der Ländersitzkontingente nach der Wählerzahl ermöglicht den Effekt des negativen Stimmgewichts, weil die auf das Land entfallende Sitzzahl nicht von einer vor der Stimmabgabe feststehenden Größe - wie etwa der Bevölkerung oder der Zahl der Wahlberechtigten - bestimmt wird, sondern an die jeweilige Wahlbeteiligung anknüpft. Der Effekt des negativen Stimmgewichts kann immer dann auftreten, wenn sich ein Zuwachs an Zweitstimmen der Landesliste einer Partei nicht auf deren Zahl an Sitzen auswirkt - weil die zusätzlichen Stimmen für die Zuteilung eines weiteren Sitzes nicht ausreichen oder weil der Landesliste aufgrund des Erststimmenergebnisses bereits mehr Wahlkreismandate als Listenmandate zustehen -, wenn jedoch zugleich eine mit dem Zweitstimmenzuwachs einhergehende Erhöhung der Wählerzahl das Sitzkontingent des Landes insgesamt um einen Sitz vergrößert. Dann kann der in diesem Land hinzugekommene Sitz auf eine konkurrierende Landesliste entfallen, oder die Landesliste derselben Partei kann in einem anderen Land einen Sitz verlieren. Entsprechendes gilt umgekehrt, wenn sich der Zweitstimmenverlust der Landesliste einer Partei auf deren Sitzzuteilungsergebnis nicht auswirkt, die damit einhergehende Verringerung der Wählerzahl aber das Sitzkontingent des Landes um einen Sitz verkleinert. Mit dem Eintritt derartiger Effekte ist immer dann zu rechnen, wenn - was mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist - eine Veränderung der Zweitstimmenzahl mit einer entsprechenden Veränderung der Wählerzahl einhergeht, etwa weil Wähler der Wahl fernbleiben. Der Effekt des negativen Stimmgewichts kann nicht etwa deshalb hingenommen werden, weil er sich nicht konkret vorhersehen lässt und von dem einzelnen Wähler kaum beeinflusst werden kann. Denn bereits objektiv willkürliche Wahlergebnisse lassen den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen. Des Weiteren ist der Effekt des negativen Stimmgewichts keine zwangsläufige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl in Listenwahlkreisen auf Landesebene unter Verzicht auf bundesweite Listenverbindungen. Der Gesetzgeber ist nicht daran gehindert, diesen Ursachenzusammenhang innerhalb des von ihm geschaffenen Wahlsystems zu unterbinden, indem er zur Bemessung der Ländersitzkontingente statt der Wählerzahl etwa die Größe der Bevölkerung oder die Zahl der Wahlberechtigten als Grundlage für die Bestimmung der Ländersitzkontingente heranzieht. II. Zusatzmandate Die Vergabe von Zusatzmandaten nach § 6 Abs. 2a BWG verletzt ebenfalls die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien. Die Regelung zielt darauf ab, Rundungsverluste bei der Zuteilung von Sitzen auf Landesebene im Rahmen einer bundesweiten Verrechnung auszugleichen (sog. Reststimmenverwertung). An der Vergabe dieser zusätzlichen Bundestagssitze kann nicht jeder Wähler mit gleichen Er-folgschancen mitwirken. Denn durch die Reststimmenverwertung wird einem Teil der Wählerstimmen eine weitere Chance auf Mandatswirksamkeit eingeräumt. Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt. Das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, Erfolgswertunterschiede, die durch die länderinterne Sitzzuteilung entstehen, auszugleichen, ist zwar von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die Regelung ist jedoch zur Erreichung dieses Ziels nicht geeignet. Sie berücksichtigt nur einseitig die Abrundungsverluste der Landeslisten einer Partei und lässt deren Aufrundungsgewinne außer Betracht. Dadurch werden zwar die bislang ohne Stimmerfolg gebliebenen Stimmen unter Umständen mandatswirksam, die vergleichsweise größere Erfolgskraft der bislang übergewichteten Stimmen bleibt jedoch unverändert bestehen. Somit werden Zusatzmandate nicht zur Herstellung von Erfolgswertgleichheit, sondern in Abweichung hiervon vergeben. Die Regelung ist auch nicht geeignet, eine mit den Überhangmandaten verbundene Verzerrung der Erfolgswertgleichheit auszugleichen. III. Überhangmandate Die Regelung des § 6 Abs. 5 BWG zu den Überhangmandaten verstößt insoweit gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, als ausgleichslose Überhangmandate in einem Umfang zugelassen werden, der den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufheben kann. Dies ist der Fall, wenn die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet. Das vom Gesetzgeber geschaffene Wahlsystem trägt - unbeschadet der Direktwahl der Wahlkreiskandidaten nach dem Verteilungsprinzip der Mehrheitswahl - den Grundcharakter einer Verhältniswahl. Denn durch die Anrechnung der Wahlkreismandate auf die Listenmandate der jeweiligen Partei wird die Gesamtzahl der Sitze so auf die Parteien verteilt, wie es dem Verhältnis der Summen der für sie abgegebenen Zweitstimmen entspricht, während die Erststimme grundsätzlich nur darüber entscheidet, welche Personen als Wahlkreisabgeordnete in den Bundestag einziehen. Übersteigt die Zahl der von einer Partei in den Wahlkreisen errungenen Sitze die ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehende Sitzzahl, so verbleiben die Sitze der Partei gleichwohl. Die Gesamtzahl der Sitze des Deutschen Bundestages erhöht sich in diesem Fall um die Unterschiedszahl, ohne dass ein erneuter Verhältnisausgleich stattfindet. Die Zuteilung von Überhangmandaten ohne Ausgleich oder Verrechnung behandelt Wählerstimmen im Sitzzuteilungsverfahren ungleich, weil dadurch neben der Zweitstimme auch die Erststimme Einfluss auf die Sitzverteilung im Bundestag gewinnt. Diese ungleiche Gewichtung der Wählerstimmen ist durch das verfassungslegitime Ziel, dem Wähler im Rahmen einer Verhältniswahl die Wahl von Persönlichkeiten zu ermöglichen, zwar grundsätzlich gerechtfertigt. Jedoch sind in dem vom Gesetzgeber geschaffenen System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl Überhangmandate nur in einem Umfang hinnehmbar, der den Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl nicht aufhebt. Bei einem Anfallen von Überhangmandaten im Umfang von mehr als etwa einer halben Fraktionsstärke sind die Grundsätze der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien verletzt. Diese Größenordnung orientiert sich zum einen an dem nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages für den Fraktionsstatus erforderlichen Quorum von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages und berücksichtigt zum anderen den mit der Neuregelung der sog. Berliner Zweitstimmen (§ 6 Abs. 1 Satz 4 letzte Alt. BWG) erneut bekräftigten Willen des Gesetzgebers, den Einfluss der Erststimme auf die Verteilung der Listenmandate möglichst einzudämmen. Im Hinblick auf die Notwendigkeit, den Wahlen zu den kommenden Bundestagen eine verlässliche rechtliche Grundlage zu geben und dem Risiko einer Auflösung des Parlaments im Wahlprüfungsverfahren zu begegnen, hält der Senat es für geboten, die gesetzlichen Wertungen in einem handhabbaren Maßstab zusammenzuführen, an den der Gesetzgeber anknüpfen kann. Daraus ergibt sich eine zulässige Höchstgrenze von etwa 15 Überhangmandaten. Unter Berücksichtigung der tatsächlichen Entwicklung bei den Überhangmandaten, deren Zahl seit der Wiedervereinigung deutlich zugenommen und zuletzt ein erhebliches Ausmaß erreicht hat, und angesichts der veränderten politischen Verhältnisse, die den Anfall von Überhangmandaten zunehmend begünstigen, ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass die Zahl der Überhangmandate den verfassungsrechtlich hinnehmbaren Umfang auf absehbare Zeit regelmäßig deutlich übersteigen wird. Der Gesetzgeber ist daher gehalten, Vorkehrungen zu treffen, die ein Überhandnehmen ausgleichsloser Überhangmandate unterbinden.